Rote Köpfe kriegen einige Bürgerliche bei der 1:12-Initiative. Sie bezeichnen die Initiative als sozialistisch, kommunistisch, Neid-Initiative, … als ob jemand 1:1 verlangen würde.
Nationalrat Ruedi Noser, der gerne den gemässigten Zürcher FDP-Nationalrat spielt, holte in der Sonntagszeitung vom 24. März 2013 zum Rundumschlag aus. In dem ganzseitigen Interview benutzt er brachiale Begriffe gegen die 1:12-Initiative. Die SP führe Krieg gegen das Erfolgsmodell Schweiz. Leistung, Vergütung und Besitz würden stigmatisiert. Wer mehr Gerechtigkeit wolle, sei weltfremd.
Diesen Sonntagszeitung-Artikel stellte Noser ins Facebook. Etliche teilten den Beitrag und kommentierten ihn. Auf meiner eigenen fb-Seite meldete sich ein PR-Berater zur Verteidigung Nosers und der wirtschaftsliberalen Haltung. Der PR-Mann, der schon gegen die Minderinitiative und für die FIFA arbeitete, beschwor die 1:12-Initiative als kommunistisch und sozialistisch. Auf meinen Einwand, 1:1 wäre kommunistisch und nicht 1:12, das die Schweiz früher praktizierte, liess er nicht gelten und bezeichnete mich als Idioten.
Betrachten wir die Initiative einmal genauer. Sie thematisiert die Lohnunterschiede. Diese haben in den letzten 25 Jahren drastisch zugenommen. Die Chefs der grossen Schweizer Unternehmen verdienten in den 90-er-Jahren rund 11 bis 13 Mal mehr als Arbeitnehmende im Durchschnitt. Heute ist es 66 Mal mehr. Der soziale Zündstoff ist nicht die Gerechtigkeitsliebe der Linke per se, sondern die wachsende Kluft in der Gesellschaft. Weltfremd ist für mich, wer dieses Faktum negiert und den sozialen Frieden missachtet.
Gegner der Initiative berufen sich stets auf das Leistungsprinzip. Leistung ist aber nur eine Form von Gerechtigkeit. Leistungsgerechtigkeit gehört in die Reihe neben Einsatzgerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit, Gleichbehandlung und Vertragsgerechtigkeit.
Wer die 1:12-Befürworter als Neider betitelt, psychologisiert nicht nur - sondern beruft sich auf die Gerechtigkeit, auf Leistungsgerechtigkeit. Obwohl Noser und die economiesuisse sich angeblich für Leistungsgerechtigkeit einsetzen, lehnen sie mit der Verunglimpfung des Prinzips Gerechtigkeit ihre eigene Basisbegründung ab. Wer sich hämisch über die Gerechtigkeit auslässt, kann sich nicht auf das Leistungsprinzip berufen. Noser benutzt Leistung bloss utilitaristisch, jenseits der Gerechtigkeit. Diese Selbstdeklaration wird damit zur arroganten Ungerechtigkeitsbegründung. Falls die längere Ausbildung von Akademikern als Leistungsmerkmal erwähnt wird, so ist dies in erster Linie ein untergeordneter quantitativer Aspekt, kein qualitativer. Längere Ausbildungen verzögern in der Regel den Berufseinstieg. Sie reduzieren die Dienstjahre um 10-20%. Dies rechtfertigt rein quantitativ einen höheren Lohn gemäss Anzahl Jahre weniger Berufstätigkeit, jedoch nie und nimmer die heutigen Lohnexzesse.
Einsatzgerechtigkeit orientiert sich nach der relativen Leistung. Wer klein ist und gleichhoch springt wie ein grosser Athlet, hat mehr geleistet. Gerechtigkeit nach Einsatz ist eine sozialere Leistungsgerechtigkeit mit vielen „unbekannten“ Mess- und Vergleichsgrössen.
Bedarfsgerechtigkeit richtet sich nach dem Grundbedarf der arbeitenden Person und seiner Familie. Die Bedarfsgerechtigkeit ist stark von den Pro-Kopf-Bedürfnissen orientiert. Sie steht aber über der simplen Gleichbehandlung oder einem Einheitslohn.
Das Gleichbehandlungsprinzip orientiert sich am Einheitslohn. Jeder erhält gleich viel, als ein Pro-Kopf-Prinzip.
Vertragsgerechtigkeit orientiert sich an die Abmachungen und Versprechen. Sie geben beiden Parteien die Sicherheit, Abmachungen sollen gegenseitig eingehalten werden. Die Vertragsgerechtigkeit will stützt sich auf gegenseitiges Vertrauen.
Ein höchst interessantes biblisches Gleichnis behandelt die fünf Gerechtigkeitsprinzipien. Es ist das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, Mat. 20,1-16. Ein Weinbergbesitzer stellt Taglöhner an, vereinbart mit ihnen den damaligen und lange Zeit üblichen Tageslohn von einem Denar. Im Verlauf des Tages engagiert er immer neue Arbeiter. Am Abend, haben einige den ganzen Tag unter der Sonne geschuftet, andere einen halben und wiederum die Letzten nur eine Stunde. Bei der Auszahlung erhalten alle einen Denar. Ist das gerecht oder ungerecht?
Dieses Gleichnis können SchülerInnen der Oberstufe sehr gut, angeregt und fair diskutieren. Viele ParlamentarierInnen haben im Gegensatz zu SchülerInnen - und erst recht, wenn noch eine Abstimmung mit dieser Problematik ansteht - kaum ein offenes Diskussionsverhalten. Neoliberale reden ausschliesslich von Leistungsgerechtigkeit und plappern die Direktiven ihrer Wirtschafts- und Gewerbeverbänden nach. Konservative betonen immer diese als Gottgegeben und verschanzen sich hinter einer calvinistischen oder pietistischen Arbeitsmoral, was Max Weber in unzähligen Arbeiten untersuchte. Eine Auslegeordnung verunsichert, obwohl jede Gerechtigkeit eine bestimmte Form von Gerechtigkeit mit Vor- und Nachteilen hat.
Zurück zum Gleichnis. Dieses widerspricht der gängigen Leistungsgerechtigkeit. Das Gleichnis vertritt eine Kontraposition dazu, indem auf die Bedarfsgerechtigkeit, die Gleichbehandlung und die Vertragsgerechtigkeit verwiesen wird. Die biblische Gleichnisrealität ist 1:1 und demzufolge kommunistisch.
Der Ausgangspunkt dieses Diskurses ist die 1:12-Initiative. Sie ist weder extrem, noch kommunistisch. Wem Werte lieber sind, der konzentriere sich auf Vers 15 des Gleichnisses. Über allen Formen der Gerechtigkeit steht die Grosszügigkeit/ Güte, die einige Vertreter des Leistungsprinzips antiliberal dem Besitzer absprechen möchten.