Wegweisungen sollen nun den Weg weisen. Im Vordergrund der Luzerner Debatte zum Thema stehen Abfallberge und Drogenszene. In den Köpfen dominiert der Gedanke, dass jetzt „etwas getan werden“ müsse. Im Eifer wird zu wenig bedacht, dass eine Wegweisung aus dem öffentlichen Raum ohne vorgängiges juristisch relevantes Verhalten eine gravierende Massnahme ist, deren Wirkung sich nicht in der optischen Aufwertung öffentlicher Flächen erschöpft. Sie zielt auf die Freiheitsrechte des Individuums und trifft damit ins Mark des liberalen Rechtsstaates.
Weit herum ist man sich einig: Wenn gewöhnliche Passanten abends auf dem Bahnhofplatz mit Bierdosen beworfen werden, besteht Handlungsbedarf. Zehn Jahre nach Pionierstaat Bern soll auch für die Metropole der Zentralschweiz eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden, welche es gestattet, Menschen wegzuweisen, die zwar nicht gegen das Gesetz verstossen, aber „die öffentliche Ordnung stören“: Wer im begründeten Verdacht steht, ein derartiger „Störer“ zu sein, soll fortan von Luzerner Gemeinplätzen weggewiesen und von diesen temporär ferngehalten werden können. Widersetzt sich der Weggewiesene oder verstösst er gegen das Aufenthaltsverbot, verlängert sich die Dauer der Fernhaltung.
Abfallberge
Ein Wegweisungsartikel richtet sich nicht gegen Drogendealer – der Verkauf von Drogen ist strafrechtlich verboten und Dealer können bereits heute aus dem öffentlichen Raum entfernt werden. Er richtet sich auch nicht gegen randalierende Jugendliche – wer nach 22 Uhr lärmt, kann bereits heute weggewiesen werden, wer Sachen beschädigt sowieso. Selbst zur Bekämpfung der Abfallberge auf dem Europaplatz braucht es keinen Wegweisungsartikel: Die ebenfalls geplante (und unumstrittene) Litteringstrafnorm genügt, um das Liegenlassen von Müll strafbar zu machen und den Behörden damit eine Handhabe zu geben.
Der Verdacht liegt nahe, dass es gar nicht um Abfallberge geht, zumindest nicht um solche aus Plastik und Altglas. Der Wegweisungsartikel zielt eigentlich auf die dem Zeitgeist entsprechende Beseitigung „gesellschaftlicher Abfälle“ ab – mittels plastischer Chirurgie und getreu dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“ soll entfernt werden, was nicht den Konventionen von reich und schön entspricht. Es ist eine Begleiterscheinung unserer neoliberal geprägten Leistungsgesellschaft, welche den Menschen für sein eigenes Glück verantwortlich macht, dass einige nicht mit dem Strom mitschwimmen. Unschön ist, dass viele nicht mitzuschwimmen vermögen und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Eine Tatsache ist auch, dass andere – zumindest in einer bestimmten Lebensphase – nicht mitschwimmen wollen, vielleicht, weil sie (noch) nicht einsehen, dass das Leben in erster Linie aus arbeiten, essen und schlafen bestehen soll. Auf diese Menschen – sogenannt Randständige und Jugendliche – ist der Wegweisungsartikel zugeschnitten. Denn sie stören ganz offensichtlich die behäbige Ruhe der übersättigten Wohlstandsgesellschaft, die lieber operiert als kuriert und lieber wegweist als hinschaut.
Freiheit als Worthülse
Bis vor 142 Jahren war es Schweizer Juden verboten, sich ausserhalb der Gemeinden Endingen und Lengnau niederzulassen. In der ersten Verfassungsrevision der Geschichte der Schweiz wurde im Jahre 1866 das Recht auf freie Niederlassung für Angehörige sämtlicher Konfessionen eingeführt. Im liberalen Kanton Zürich hatten 27′808 Stimmende für diese Verfassungsänderung gestimmt und nur 1′875 dagegen. Im konservativen Luzern sagten 3′548 Ja und 14′744 Nein. Damals war die Frage, ob sich Menschen frei bewegen und ihren Aufenthaltsort selbst bestimmen können, ein Gradmesser für die Liberalität. Wo sind sie nur geblieben, die Menschen, die an das selbstbestimmte, freie Individuum glauben? Hat die neoliberale Dominanz der Marktlogik den Glauben an den freien Menschen aufgefressen mit Haut und Haar und Knochen, so dass sich nur noch ein paar nette Linke wirklich gegen die unliberalste Bestimmung der letzten Dekade stemmen – und sogar die etwas weniger netten Linken bloss mehr halbherzig dagegen sind?
Christian Sager
Institut für Strafrecht und Kriminologie, Universität Bern